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La couverture du livre" Le champ des possibles" de Marie-Amélie Chéreau
  • Human & Health

    AUSZUG

    "Der Kellner kam mit ihren Getränken. Kurzerhand stießen sie auf die schönen Zufälle des Lebens an - die absolut keine sind! Trotz der Kühle des Rosés kam ihr der erste Schluck wie eine weiche, warme Bombe in ihrem Innern vor. Unversehens entspannte sie sich und ließ sich vom Fluss der entstehenden Diskussion mitreißen.

    Sie erfuhr, dass er nicht Stephan, sondern Adrian hieß, dass er nicht 37, sondern 42 Jahre alt war und dass er gerade von seiner Frau geschieden wurde. Sie hatte ihn zwei Jahre zuvor wegen ihrem Liebhaber verlassen, als sie 40 wurde. Ein entscheidendes Jahr in seinem Leben. Das Jahr der ersten Bilanz. Das Jahr, in dem sich die Bemühungen konkretisieren, das Jahr der ersten Erfolgserlebnisse. Das Jahr, in dem alle Hoffnungen und Träume noch erlaubt sind. Noch nicht das, wo Bedauern aufkommt. Welch ein Schlag! Adrians Gesicht trübte sich, eine Wolke der Traurigkeit zog vorüber. Camille sah Gaspard’s Porträt vor sich aufsteigen. Sie war in dem Jahr gegangen, in dem er 50 wurde. Das Jahr in dem man weniger gut Misserfolge erträgt. Dasjenige, das das Bedauern vertieft. Plötzlich sah sie die klaffende Tiefe der narzisstischen Wunde eines Mannes, der verlassen wird. Man verlässt keinen Mann. Er ist das starke Geschlecht. Der Solide. Der Dominierende. Der Jäger. Der Angreifer. Ihn zu verlassen, bedeutet, ihn im größten Ausmaß seines Egos zu vernichten.


    Adrians Gesicht belebte sich wieder. Seitdem hat er Erfahrungen und Begegnungen gesammelt. Keinerlei Bindung. Keine Verpflichtung. Nur Spaß, Sex, Spiel und Abenteuer. Stolz verkündete er übrigens, dass er eine Woche zuvor mit einer zigsten weiblichen Errungenschaft zwei traumhafte Tage in Venedig verbracht hatte, sozusagen als indirekte, unterschwellige Botschaft an Camille. Du weißt Bescheid, meine Liebe! Dir ist äußerst klar, wo es lang geht. Es ist nur eine Nacht. Ja, sie wusste es. Und das war genau, was sie wollte. Sie hatte auch große Lust. Er gefiel ihr unbeschreiblich gut. Sie wollte ihn unbedingt. Sie hatte auch Lust auf Leichtigkeit, Freude, Spaß, Ekstase, ohne gegenteilige Belastungen, schwere Überlegungen und Kompromisse, die normalerweise jede Liebesbeziehung früher oder später mit sich bringt. Ihre hart erkämpfte Freiheit war ihr wichtig. Ihm auch. Jedem aus anderen Gründen.

    Während sie an ihren Getränken nippten, sahen sie sich eingehend an, prüften sich. Völlig unnötig. Ihre Energien hatten sich bereits getroffen und aufeinander abgestimmt. Die Körpersprache hatte schon Vorsprung; der weitere Ablauf ließ keinen Zweifel mehr offen. Aber der Verstand pochte auf sein Recht, mit seinem Bedürfnis an Kontrolle und einzuhaltenden  Ritualen. Daher, genau wie zwei Hunde, die sich beschnüffeln und sich näher kommen, ohne zusammenzutreffen, spielten ihre Augen miteinander, lachten, befragten und neckten sich. Sie spürte, wie sich sein Fuß ihrem näherte und ihren Knöchel streifte. Sie zuckte zusammen und wurde rot. Ihre Wangen standen in Flammen. Ihr Magen voller Schmetterlinge. Sie entschuldigte sich: "Das kommt vom Rosé". Aber natürlich! Er warf ihr einen mitwissenden Blick zu, lächelte sie an und nutzte die Gelegenheit, um ihre Hand zu ergreifen und sanft mit ihr zu spielen. Er spielte seine Rolle meisterhaft. Nichtsdestotrotz. Sie schwebte in einer anderen Welt."

    Interview

    © Marie-Amélie Chéreau.

    © Marie-Amélie Chéreau